die spannung bannerCellist Valentin Priebus resümiert die Frühjahrstournee 2009


Und wieder einmal bin ich überwältigt. Der Moment, in dem sich der Taktstock des Dirigenten zum ersten Mal hebt, die letzten Gespräche zwischen Pultnachbarn abrupt enden und sich alles konzentriert nach vorne richtet, in Erwartung des ersten Schlags. Wenn aus über 100 Instrumentalisten, die sich zum Teil erst am selben Tag persönlich kennengelernt haben, ein Orchester wird, die Spannung jedes Einzelnen sich auf den Raum überträgt, in der Luft kulminiert, und schließlich der erste Ton erklingt. Es ist der Abend des 17. März, und soeben beginnt die erste Tuttiprobe zur Frühjahrstournee 2009 der Jungen Deutschen Philharmonie.
Noch eine Woche zuvor habe ich von meinem Glück nicht ahnen können. Fünf Tage vor Beginn der Probenphase ereilt mich ein Anruf mit der Frage, was ich denn in den nächsten vier Wochen vorhätte und ob sich Strauss’ Alpensinfonie und Brahms’ Erstes Klavierkonzert nicht nach einer spannenden Überbrückung der restlichen Semesterferien anhören würden. „Äh, na klar“, fällt mir darauf spontan nur ein. Ein Cellist war krank geworden und musste abspringen. So ging es am folgenden Montag für mich von der studentischen Heimat aus mit der Deutschen Bahn und einer von Halt zu Halt größer werdenden Gruppe junger Menschen mit Instrumentenkoffern zunächst nach Ulm. Vor dessen Hauptbahnhof ist das für ein Projektorchester obligatorische Begrüssungsritual mit Dutzenden sich nach langer Zeit wieder sehenden und gegenseitig um den Hals fallenden Mitgliedern zu beobachten. Obwohl zum ersten Mal dabei, treffe ich direkt auf alte Bekannte aus ehemaligen Orchestern, von Meisterkursen, Wettbewerben oder Muggen, und es zeigt sich wieder, wie klein und familiär die Musikerwelt doch ist – zum einen in der Erkenntnis, dass man sich stets mindestens zweimal über den Weg läuft, zum anderen darin, dass man sich, zunächst fremd, in den häufigsten Fällen schon über diese Geigerin oder jenen Trompeter kennt. Zwei Reisebusse stehen bereit und bringen die Schar der Musiker durch eine immer ländlicher werdende Gegend ins schwäbische Ochsenhausen.
Hier wird das Orchester samt Leitungsteam und Dozenten die nächsten eineinhalb Wochen in der Landesmusikakademie in einem jahrhundertealten Benediktinerkloster verbringen, einen Großteil der Zeit probend, aber auch kickernd, feiernd und sich näher kommend. Am selben Abend noch steht die erste Registerprobe an. Die bei solchen Anlässen aufkeimende Aufregung verfliegt rasch angesichts einer äußerst netten Dozentin und der freundlichen sowie sehr bald heiter-lustigen Atmosphäre innerhalb der Cellogruppe.

Richtig spannend aber wird es natürlich erst am nächsten Abend, wenn endlich die Erwartungen, die sich beim Durchhören der Werke vor der Arbeitsphase und während der Stimmproben aufgebaut haben, erfüllt werden – eben in jenem Moment, da der erste Ton erklingt und, inmitten des gewaltigen Orchesterapparats sitzend, die persönliche sowie gemeinsame Entdeckungsreise in die Welt der Strausschen und Brahmsschen Sinfonik beginnt. Die nächsten Tage zeigt sich das Wetter in Ochsenhausen von seiner wechselhaftesten Seite. Während wir die Mittagspause noch bei Kaffee und Kuchen draußen in der Sonne verbringen, im Geheimen schon toskanische Frühlingsluft fühlend, empfängt mich, als ich am selben Abend aus dem Gewölbekeller des Klosters trete, tatsächlich ein Schneetreiben! So scheint es unabwendbar, dass vor den Klostermauern noch eine Schneeballschlacht ansteht, die keinen Unschuldigen auf dem Weg ins Bett verschont.
Der bunte Abend einige Tage später ist ein rauschendes Fest der kreativen Ideen, und spätestens bei der Alphorneinlage, zu der auch die erforderliche Trachtenkleidung nicht fehlt, bleibt kein Auge trocken.
Am Morgen nach der öffentlichen Generalprobe in Ochsenhausen, zu der sich der Konzert- (bzw. Proben-)Saal bis auf den letzten Platz mit Zuhörern füllt, besteigen wir die Busse, und es geht ab in den Süden. Auf der Fahrt über die Alpenpässe, vorbei an meterhohen Schneewänden, die sich an der Straße türmen, und einer imposanten Gebirgs- und Gletscherwelt, erhält jeder von uns noch mal einen ganz individuellen Eindruck von der Faszination, welche die Berge auf den jungen Richard Strauss ausgeübt haben müssen und die ihn zur Komposition seiner Alpensinfonie bewog.
Auf der anderen Seite der Alpen scheint es, als würden sich unsere Hoffnungen auf eine warme italienische Frühlingssonne erfüllen – wir passieren den Luganer See bei strahlendem Sonnenschein und erreichen Cremona im Abendrot. Nach dem Check-in ins Hotel werden unverzüglich die Restaurants in der bezaubernden Altstadt in Augenschein genommen, und bei noch immer angenehm warmen Temperaturen muss natürlich die Gelegenheit genutzt werden, an den Tischen draußen die jeweilige Pizza oder Pasta zu verzehren.

Der nächste Tag steht zur freien und freizeitlichen Verfügung, so dass in Ruhe alles erledigt werden kann, was man als deutscher Student in Italien halt so macht – ein Cappuccino im Café am Marktplatz, ein Streifzug durch die engen Gassen mit gelegentlichen Stopps vor den Schaufenstern der zahlreichen Modeboutiquen, ein cremiges oder fruchtiges Gelato auf den Stufen vor der Kathedrale und wieder einmal Pizza oder Pasta, je nachdem, was man am Vorabend noch nicht auf dem Teller hatte.
In Cremona steht auch unser erstes „richtiges“ Konzert an, in einem für Italien typischen in Rot und Gold gehaltenen Theater mit bis zu 5-stöckig sich übereinander auftürmenden Logen. Was an diesem Abend bei mir aufgrund der gewissen Erst-JDPh-Konzertnervosität noch nicht in vollen Zügen genossen werden kann, ist spätestens beim Konzert in Pistoia ein einziger Rausch. Jeden Abend sind neue Facetten der Werke zu entdecken, gleichzeitig spürt man förmlich, wie das Orchester musikalisch noch mehr in sich zusammenwächst, so dass selbst die jüngsten Zuhörer – in Pistoia in überdurchschnittlicher Zahl und besonders in den ersten Reihen vertreten – gebannt und mucksmäuschenstill lauschen. Die erste Hälfte des Konzerts wird gekrönt durch eine atemberaubende Zugabe des Solisten Rudolf Buchbinder (Una trascrizione di Johann Strauss).
Am freien Tag in Florenz, der uns mit sommerlichen 25 Grad und Sonnenschein für die verregneten, nasskalten vorherigen Tage entschädigt, ist wieder der Dreikampf aus Shoppen, Schlemmen, Sightseeing zu absolvieren, und am Abend kann jeder mit einer persönlichen Anekdote vom Streifzug durch die Stadt um den Ponte Vecchio aufwarten. Eine Neuerung schlägt auch gleich optisch in den nächsten Konzerten durch – die Cellogruppe ist von nun an nur noch einheitlich in orangenen Krawatten zu erleben. Der Tag in Florenz ist zeitgleich auch der Abschluss unserer Italienreise, von nun an touren wir durch Deutschland. In der Heimat steht direkt zu Beginn mit der Berliner Philharmonie sicherlich für viele von uns ein Meilenstein der Konzerterfahrung auf dem Programm. An diesem Abend zeigt sich, dass selbst in einem solch bekannten und professionell geführten Konzerthaus von Welt schon mal ein technisches Problem auftreten kann, wie etwa wenn die Klimaanlage plötzlich ein brummendes Geräusch von sich gibt, bei dem der zweite Satz des Brahms- Konzerts, charakteristisch für seine zarten, hauchdünnen Pianissimi, seine volle Wirkung verlieren würde. Nach einer zehnminütigen Unterbrechung verstummt das Geräusch dann plötzlich, ein erleichtert raunendes „Ahh“ geht durch den Saal, und das Konzert kann fortgesetzt werden. Einige mögen meinen, dass durch die erzwungene Pause der Spannungsbogen verloren ging, ich empfinde es jedoch so, dass gerade danach die Atmosphäre im Saal noch eindringlicher ist, noch tiefer geht.

Die nächsten Stationen der Konzertreise folgen in täglichem Abstand, da werden die Zugfahrten und Mittagspausen auch schon mal für Ruhepausen genutzt. Denn natürlich gehen drei solch fabelhafte und abwechslungsreiche Wochen auch an die Substanz, besonders da schon in den ersten Tagen in Ochsenhausen, auf der anfänglichen Euphorie- und Begeisterungswelle surfend, nicht mehr als absolut notwendig geschlafen wird … So lässt man in Essen oder Mannheim doch den ein oder anderen Stadtspaziergang oder Hotelpoolbesuch sausen, um für den Abend wieder fit zu sein.
Denn wenn abends die Stille vor dem ersten Einsatz von Lawrence Foster eintritt, will jeder mit voller Aufmerksamkeit dabei sein. So wie bei der ersten Tutti-Probe noch unter Hannes Krämer und so wie bei allen bereits mit der Jungen Deutschen Philharmonie erlebten Konzerten!

***
Valentin Priebus / Cello