„Meine ersten beiden Symphonien erschöpfen den Inhalt meines ganzen Lebens. Es ist Erfahrenes und Erlittenes, was ich darin niedergelegt habe, Wahrheit und Dichtung in Tönen.“ Dieser emphatische Ausspruch Gustav Mahlers fasst zwei wesentliche ästhetische Auffassungen der Romantik zusammen: die untrennbare Verbindung von Leben und Kunst und die Überzeugung, dass große Kunst nur aus Leiden entstehen könne. Diese Überzeugung teilte auch der exzentrische Dichter Lord Byron. Durch seinen zügellosen Lebenswandel katapultierte er sich ins gesellschaftliche Abseits. Viele seiner Helden ziehen auf der vergeblichen Suche nach dem Glück rastlos durch die Welt, so auch die Titelfigur des dramatischen Gedichtes Manfred, das 1817 in London erschien. Schuldbeladen durch die inzestuöse Beziehung zu seiner Schwester und deren anschließenden Tod lebt Manfred abgeschieden in einem düsteren Alpenschloss, verflucht zu einem Leben ohne Ruhe und Freude. Alle Versuche, den Fluch zu lösen, scheitern. Den nahen Tod vor Augen, schlägt er sogar das Angebot der Kirche aus, seine Seele zu erlösen, da er sich als Gegenleistung den Regeln des Glaubens unterwerfen müsste. Statt Unterordnung wählt Manfred die Freiheit: „Hinweg! Ich sterbe so, wie ich gelebt – allein.“
Wie viele Romantiker identifizierte sich auch Robert Schumann mit dem englischen Poeten und dessen Romanfigur Manfred. „Bettlectüre:
Manfred v. Byron – schreckliche Nacht“, notierte er schon 1829 in sein Tagebuch. Fast 20 Jahre später setzte Schumann den Stoff in Musik. Seiner Frau Clara hatte es besonders die Ouvertüre angetan, die sie für „eines der poetischsten und fast ergreifendsten Stücke“ ihres Mannes hielt. Schon in den ersten Takten kommt die Zerrissenheit des Titelhelden zum Ausdruck, und obwohl das Stück zwischen Resignation und Aufbegehren hin- und herschwankt, bedeutet der langsam verebbende Schluss keine Erlösung.
„Fesseln tragen kann ich nicht“
Als Schumann seinen Manfred komponierte, lebte er mit seiner
Familie bereits vier Jahre in Dresden und hatte allen Grund, sich mit Byron und seinem Helden zu identifizieren. Es gelang dem ohnehin psychisch labilen Komponisten nicht, im Dresdner Musikleben Fuß zu fassen. 1850 wechselte er als Städtischer Musikdirektor nach Düsseldorf. Dort bekam er im Herbst 1853 Besuch von dem 20-jährigen Johannes Brahms. Schumann, den eigenen Verfall vor Augen, sah in dem jungen Musiker den lange erwarteten „Messias“, der seinen eigenen Weg fortführen werde. Durch Schumanns Aufsatz „Neue Bahnen“ wurde Brahms über Nacht berühmt. Auch privat sollte der Besuch schicksalhaft für Brahms sein: Die Frau seines Mentors wurde die Liebe seines Lebens. Nach dem Tode Schumanns im Juni 1856 kühlte sich die Beziehung jedoch ab; der nach außen schroffe, innerlich aber höchst verletzliche Komponist unterdrückte mit aller Gewalt seine Gefühle: „Leidenschaften gehören nicht zum Menschen als etwas Natürliches. Sie sind immer Ausnahme oder Auswüchse.“ Auch die spätere Verlobung mit Agathe von Siebold löste er schnell wieder: „Ich liebe Dich, aber Fesseln tragen kann ich nicht.“
Bald darauf muss Brahms den Entschluss gefasst haben, sein Leben allein zu verbringen; er übernahm das Lebensmotto „frei, aber einsam“ seines Freundes und Weggefährten Joseph Joachim und fügte die Tonfolge f-a-e in mehrere seiner Kompositionen ein. Die romantische Idee des Leidens als Voraussetzung für Kunst ist auch hier gegenwärtig. Doch führt das Leiden nicht, wie bei Byrons Manfred, zum Untergang. Durch bewussten Verzicht erkauft Brahms sich die für ihn lebensnotwendige Freiheit. Vielen Werken von Brahms ist dieser Verzicht deutlich anzumerken. Jedoch komponierte er auch Musik, die Ausgeglichenheit und Heiterkeit ausstrahlt. Neben der 2. Sinfonie oder dem Violinkonzert gilt dies ganz besonders für die im Sommer 1883 komponierte 3. Sinfonie in der pastoralen Tonart F-Dur. Hier gilt nicht das resignative „frei, aber einsam“, sondern eher das von Brahms’ Biographen Max Kalbeck für einige Werke vermutete „frei, aber froh“ – auch wenn in der Sinfonie die Tonfolge f-a-f nicht vorkommt. Als leicht abgewandeltes Motiv f-as-f eröffnet sie jedoch den ersten Satz mit energisch aufsteigenden Bläserakkorden, deren Spannung sich im folgenden Hauptthema entlädt. Die beiden Mittelsätze tragen einen für Brahms typischen Intermezzo-Charakter. Dem schwärmerischen zweiten Satz in Dur steht dabei ein nachdenklicherer in Moll gegenüber. Das Finale schafft eine Synthese aus diesen beiden Mittelsätzen: leise beginnend in dunklem f-Moll, arbeitet es sich nach F-Dur durch. Zyklische Geschlossenheit erreicht Brahms zudem dadurch, dass er einige Themen der vorangegangenen Sätze im Finale zitiert. Hier steht nicht dramatische Entwicklung im Sinne Beethovens im Vordergrund, wie es Brahms in seiner 1. Sinfonie vorgeführt hatte, sondern ein Ruhen in sich selbst, das am Schluss wieder zu dem Thema zurückfindet, mit dem im ersten Satz alles begann. Dies hat sicher wesentlich zu der bis heute ungebrochenen Beliebtheit der Sinfonie beigetragen.
Melodischer Reichtum und große Kantilenen
Béla Bartók hatte sich in seiner Jugend zunächst an Brahms orientiert,
bevor er die Musik Wagners und Liszts kennenlernte. Zu einem Schlüsselerlebnis wurde jedoch die „Erforschung der bis dahin schlechtweg unbekannten ungarischen, slowakischen und rumänischen Bauern musik“ (Bartók), der er ab 1905 zahlreiche Reisen widmete. Viele Werke Bartóks basieren auf diesen Volksmelodien. Das gilt auch für das 2. Violinkonzert, das Bartók von Mitte 1937 bis Ende 1938 für seinen Freund, den Geiger Zoltán Székely, komponierte. Während Bartók eine einsätzige Variationenfolge geplant hatte, bestand Székely auf einem „richtigen Konzert“ mit drei Sätzen. Daraufhin komponierte Bartók ein formal strenges, „ausgewachsenes“ Konzert, ließ aber seine ursprüngliche Konzeption nicht aus den Augen. Über den dritten Satz schrieb er an Székely: „Streng genommen ist er eine freie Variation des ersten Satzes. Schließlich habe ich dich überlistet und doch Variationen geschrieben.“ Im Unterschied zu manchem Frühwerk, das durch klangliche Härten provoziert, zeichnet sich das 2. Violinkonzert durch
Spielfreude und tänzerische Motorik, aber auch durch melodischen Reichtum und große Kantilenen aus und steht so in der klassisch-romantischen Tradition der Violinkonzerte von Beethoven, Mendelssohn, Brahms, Szymanowski oder Berg. Bartóks 2. Violinkonzert ist eines der letzten großen Werken, die der Komponist vor seiner Flucht aus der vom Krieg bedrohten Heimat vollendete. Im Oktober 1940 traf er mit seiner Frau in den USA ein. Dort gelang es ihm jedoch nicht, sich im Musikleben zu etablieren. So war Béla Bartók in den USA zwar „frei, aber einsam“. Erst mit dem Kompositionsauftrag für das Konzert für Orchester und der amerikanischen Erstaufführung des 2. Violinkonzertes 1943 sollte sich seine Lage noch einmal verbessern, bevor Bartók am 26. September 1945 in New York starb.
Mit Sir Roger Norrington hat die Junge Deutsche Philharmonie für dieses Programm einen Dirigenten verpflichtet, der nicht nur zu den international renommiertesten zählt, sondern längst dafür bekannt ist, mit seinem an alter Aufführungspraxis geschulten Ohr uns vertraute Musik in völlig neuem Gewand zu präsentieren. Ihm zur Seite steht die junge Stargeigerin Carolin Widmann, die zur Zeit als die kompromissloseste Geigerin der jungen Generation für Furore sorgt und sich mit Vorliebe Neuer Musik und deren unkonventioneller Vermittlung widmet. Bartóks 2. Violinkonzert wird so zu einem zweifach neuartigen Hörerlebnis.
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Dr. phil. Wolfgang Doebel / ist Dozent für Musiktheorie und Musik wissenschaft am Johannes-Brahms-Konservatorium in Hamburg und hält Vorträge und Gastvorlesungen im In- und Ausland. Er ist Klavierlehrer, freier Mitarbeiter beim Norddeutschen Rundfunk und Programmheft-Autor der Hamburger Symphoniker, vor deren Konzerten er regelmäßig Einführungsveranstaltungen durchführt.