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Ganz wirklich kann es nicht sein, dieses Bamberg – dafür ist die Stadt viel zu schön, dafür ist das Orchester, das diese kleine Stadt beherbergt, viel zu gut und zu berühmt. Jonathan Nott allerdings, der als Chefdirigent die Bamberger Symphoniker leitet, macht einen ungemein realitätsnahen Eindruck. Selten tut, sagt, denkt er nur eine Sache auf einmal, und nie tut er etwas nur nebenher.
 

Herr Nott, Sie gelten nach Ihren erfolgreichen Einspielungen mit den Bamberger Symphonikern als Interpret, der zu Mahler Wichtiges zu sagen hat. War das der Grund, warum die Junge Deutsche Philharmonie Sie zu einem Projekt mit Mahlers 9. Sinfonie eingeladen hat?
--Es war nicht leicht, einen gemeinsamen Termin zu finden, weil man eine längere Periode von Proben und die Konzerttournee einplanen muss. Die Entscheidung über das Repertoire haben wir erst danach getroffen. Ich freue mich besonders auf zwei Dinge. Erstens haben junge Musiker immer eine ganz besondere Energie, und es ist für einen Dirigenten eine besondere Verantwortung, dieser Energie eine Struktur zu geben. Es ist auch eine große Herausforderung, dieses Orchester wirklich zu überzeugen. Zweitens freue ich mich auf die Vermittlungsarbeit. Die Arbeit des Dirigenten ist ja oft recht einsam. Man forscht und denkt über die Musik nach, und oft kann man davon kaum etwas weitergeben. Das ist bei jungen Orchestern anders, da muss man mitteilen, was man sich gedacht hat. Und man ist in jedem Stadium der Arbeit konfrontiert mit Energie, mit Flexibilität und mit einer großen Wissbegierde.


Nun ist Mahlers Neunte umwölkt vom Todeshauch des Spätwerks und damit vielleicht nicht gerade ein typisches Repertoire-Stück für ein Studentenorchester.
--Aber es ist doch wunderbar, gerade junge Leute mit diesem Inhalt der Sinfonie zu beschäftigen. Wenn man 25 ist, geht es nicht darum, dass man sich mit dem Gefühl anfreunden muss, dass am Ende alles sinnlos ist. Aber die Aussagekraft, die man hat, die Wichtigkeit, die man jeder Note geben kann, das ist unabhängig vom Alter. In Mahlers Neunter kämpft man gegen Trauer, Abschied, Bitterkeit und die Angst vor dem Tod, man kämpft um Lebenswillen – ungefähr eine Stunde und fünfzehn Minuten lang. Aber wenn man die letzte Seite der Partitur erreicht hat, spürt man doch, dass das alles nicht umsonst war, auch wenn man nicht weiß, wohin der nächste Schritt führen wird. Meine Verantwortung wird darin liegen, dass wir Mahler nicht nur virtuos und schnell und laut, sondern inhaltlich angemessen spielen.
 

Ist es für junge Musiker wirklich wichtig, den Inhalt emotional durchzustehen, um das Stück angemessen spielen zu können? Kann man die Gestaltungsarbeit in den Proben nicht von dieser emotionalen Seite loslösen?
--Es gibt natürlich Musik, deren Energiequelle sich leichter nutzen lässt, weil sie insgesamt positiver aussieht. Auch da muss man sich den Emotionen ja nicht ausliefern. Ich selbst habe meine ersten eigenen Erfahrungen mit Musik als Sängerknabe gemacht, und ich erinnere mich genau, dass die Tiefe meiner Gefühle dabei mit zehn, elf Jahren nicht geringer war, als sie es jetzt ist. Nur die Erfahrungen, mit denen sich diese Gefühle verbinden, verändern sich im Laufe eines Lebens. Und die Musik bietet ja nicht nur Inhalte an, sondern auch eine Intensität, die man von Note zu Note gestalten muss. Das ist das Vorrangige.
 

Wenn es bei Mahler so sehr auf den Inhalt ankommt, der ernst genommen werden muss, wie gestalten Sie dann den Unterschied zwischen Proben und Aufführung?
--Das ist in der Tat eine schwierige Sache. Man beschäftigt sich als Dirigent mit einem Stück, seinem Inhalt und seinen Implikationen, dann gibt man in der Probe einen Impuls – und muss sehen, was zurückkommt. Und dann muss man Entscheidungen treffen: Wie geht es weiter, was ändere ich, wo und wie, wann spiele ich was? Solche Fragen kosten viel Energie und fordern Entscheidungen, und sie beeinflussen die Proben ganz enorm. Die Musiker werden, wenn ich komme, schon recht intensiv an der Musik gearbeitet haben. Dann versuchen wir, daraus gemeinsam etwas zu machen. Wir bearbeiten größere Strecken, wir lassen größere Bögen entstehen. Man kann auch zum Beispiel, um herauszufinden, wie das Orchester in dieser Situation auf mich reagiert, einen ganzen Satz durchspielen und hinterher an die Details gehen, an die Arbeit von Note zu Note. Man stellt sich Fragen wie: Wie ist die letzte Note des Stückes schon in seiner ersten enthalten? Im Moment stelle ich mir vor, dass die jungen Musiker voller Energie an die Arbeit gehen und dass wir uns eher etwas wie Faulheit erarbeiten müssen, die man braucht, um einen bestimmten Klang herzustellen und zu halten. So etwas kann man nicht allein üben, und auch in den Gruppenproben nicht hinreichend: Was für einen Klang wollen wir kreieren? Denn vom Klang hängt es ab, wie sehr uns die Musik beeindruckt, wie sehr sie Bilder erzeugt. Es ist auch unbedingt wichtig, dass man ein Stück nicht totprobiert. Eine Aufführung muss leben. Und sie muss wahrscheinlich jedes Mal anders sein. Man muss bei den Proben ein Gerüst erarbeiten, und in diesem Gerüst werden wir an jedem Konzertabend eine Aufführung improvisieren.
 

Das heißt: Die Probenarbeit dient vor allem dem Ziel, Gestaltungsfreiheit zu gewinnen.
--Genau. Ich versuche, in den Proben das Stück nicht zu oft identisch spielen zu lassen. Man soll als Musiker mit dem Gefühl die Proben verlassen: Man kann es auch anders spielen, ohne den Inhalt zu verändern. Und aus jeder veränderten Spielweise ergibt sich stets auch eine veränderte Sicht auf den nächsten Takt. Es gibt Musiker, die mit großer Disziplin arbeiten und immer genau wissen wollen, wie sie etwas zu tun haben. Da entsteht die Gefahr, dass eine Aufführung nur noch die Wiederholung der Probe ist. Es ist aber wichtig, dass sich in einer Aufführung auch spiegelt, wie wir heute Abend drauf sind, was für Stimmungen vom Publikum ausgehen, wie der Saal ist und was er uns zurückgibt. Wenn man zu präzise probt, schließt man möglicherweise eine Wahrnehmung dieser wichtigen Dinge aus. 
 

Ein Unterschied zwischen Probe und Konzert besteht also auch darin, dass die Musiker im Konzert ihre Antennen zum Saal hin öffnen.
--Genau. In den Saal hineinzuhören: das muss man lernen. Man kreiert sonst etwas für sich und entwickelt kein Gespür, wie es sich im Saal entwickelt und vollendet. Wenn der Saal gut ist, bekommt man etwas von ihm, und das nimmt Einfluss darauf, wie man spielt, wie man den Schluss eines Taktes oder einer Phrase gestaltet. Ich habe dafür kein allgemein gültiges Rezept, wie man das proben kann. Ich muss schauen, was mir vom Orchester entgegenkommt, ich lerne es kennen und versuche, auf dieser Basis eine Art Teamgeist zu erarbeiten. Zum Kennenlernen ist es auch sehr gut, noch ein anderes Stück zu spielen, was wir ja mit Schostakowitschs Violinkonzert auch tun. Das ist ein Stück mit einer ganz und gar vergleichbaren Tiefe, aber einer anderen Aussage.
 

Also gehen Sie mit der Jungen Deutschen Philharmonie nicht anders um als mit Ihren Bamberger Symphonikern.
--Ich hoffe nicht. Ich bin sehr offen für das, was geschehen wird, und ich bin sehr gespannt darauf, was mir angeboten wird und wie ich mich fühle. Wenn man das Gefühl hat, man ist willkommen und die Gesten, die man ans Orchester richtet, werden verstanden – das ist etwas ganz anderes, als wenn man einem Orchester gegenübersteht, das den Eindruck vermittelt, man müsse ihm nur die Eins geben, und dann weiß es, was geschehen wird.


Die Junge Deutsche Philharmonie ändert vergleichsweise häufig die Besetzung. Ist es nicht auch so, dass in solchen Probenphasen mit anschließender intensiver Konzerttätigkeit ein Klangkörper sich formt?
--Einen Klangkörper kann man nur gemeinsam formen. Die großen Orchester mit ihren Traditionen sind in dem Punkt natürlich im Vorteil gegenüber temporären Orchestern. Sie haben mehr Zeit miteinander verbracht und aufeinander gehört, sie haben gemeinsam schon mehrere Säle kennen gelernt, ihr Klang ist gereift. Das ist am schwierigsten herzustellen: ein gereifter Klang. Aber wenn man Glück hat, kann es gelingen, einen Klangkörper zu formen und nicht nur ein gut trainiertes Orchester.
 

Das klingt nach hohem Risiko.
--Ja, es kann passieren, dass man sich mit der Verständigung beschäftigt, und wenn man da etwas erreicht hat, ist die Probenzeit vorbei. Aber ehrlich gesagt: Ich hasse Proben, und ich liebe Konzerte. Proben sind ein notwendiges Übel. Sie sind notwendig, damit eine gewisse Großzügigkeit entsteht und Vertrauen. Wir wollen nicht die Musik fehlerfrei präsentieren, wir wollen, dass die Musik miterlebbar wird. Also müssen wir uns fragen, wie sie ankommt. Wenn ich als Dirigent den Eindruck habe, dass etwas passiert, was nicht lebendig ist, muss ich etwas anders machen und mich darauf verlassen können, dass das nicht zu einer Katastrophe im Orchester führt. Es ist egal, wie man sich fühlt, ob man gut geschlafen hat, was man gegessen hat – wichtig ist, dass man bei der Sache ist.

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Interview: Hans-Jürgen Linke
Autor


Jonathan Nott, geboren 1962 in Solihull, England, studierte Musikwissenschaft, Gesang, Flöte und Dirigieren in Cambridge, Manchester und London, arbeitete an den Opernhäusern in Frankfurt und Wiesbaden, in leitender Funktion in Luzern und war Chefdirigent beim Ensemble Intercontemporain in Paris. Seit 2000 ist er Chefdirigent der Bamberger Symphoniker.