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Sie wollten schon als Kind das Flötenkonzert G-Dur KV 313 von Mozart spielen, das Sie im Hause Ihres ersten Lehrers François Binet hörten. War dieses Konzert Ihr musikalisches Urerlebnis? 

Mein musikalisches Urerlebnis war eigentlich Flamenco-Musik in Spanien. Da war ich drei Jahre alt. Deshalb war die Gitarre mein erstes Wunschinstrument. Ein Jahr später zogen wir nach Rom. Unsere Nachbarn dort waren die Binets, und aus deren Wohnung habe ich Flöte, Klavier, Cello und Geige gehört. Immer habe ich dabei Mozarts Flötenkonzert mitgesungen, mitgetanzt, sodass François Binet, der mich einmal auf der Treppe traf, zu mir sagte: „Lustig, dass du dieses Mozart-Flötenkonzert singst.“ Und ich zurück: „Ja, kannst du mir das beibringen?“ Und so bin ich zur Flöte gekommen. Meine kindliche Begeisterung hat mich zur Flöte geführt. 

Was hat Sie daran derart überwältigt, dass Sie beschlossen, Flötist zu werden?

Erst zehn Jahre später, mit fünfzehn, habe ich mich entschieden, Flötist zu werden, nachdem ich das G-Dur-Konzert von Mozart zum ersten Mal auf einer Bühne mit Orchester gespielt hatte. Das war nach dem Nationalwettbewerb in Belgien, den ich gewonnen hatte. Für mich war das so berauschend, dass ich beschloss, daraus meinen Beruf zu machen. Und dann wurde es ernst … 

Wenn Sie heute Mozart spielen, ist da noch etwas von diesem Erlebnis in Ihnen erhalten geblieben?

Zwei, drei Konzerte danach bin ich ein paar Mal nervös geworden und hatte ein bisschen Bühnen- oder Leistungsangst. Aber daraus habe ich gelernt, diesen Stress zu vergessen und das Kind in mir wiederaufleben zu lassen. Das ist etwas, was mich immer noch beim Musizieren jeden Tag auf der Bühne am Leben hält und mich motiviert, immer das Beste zu geben. Ich glaube, es ist wirklich das Schönste, was ich gerade machen kann, und das kommt aus dem Kindheitserlebnis mit diesem Mozart-Konzert. 

Wann haben Sie entdeckt, dass Sie mit Mozart auch Geburtstag haben?

Erst später. Das kann man als guten Stern sehen. Aber auch Roger Bourdin, ein Zeitgenosse von Jean-Pierre Rampal, der leider sehr früh verstorben ist, wurde am 27. Januar geboren. Viele meiner Lehrer wie Aurèle Nicolet oder Michel Debost sind auch um den Dreh geboren. Ob das jetzt etwas bedeutet oder nicht, weiß ich nicht. Ich glaube nicht an diese Zeichen, sondern arbeite daran, mein Glück selbst zu erschaffen. 

Sie führen in den beiden Neujahrs-Konzerten mit der Jungen Deutschen Philharmonie Mozarts Andante C-Dur KV 315 auf. Die Musikwissenschaft vermutet, dass dieser Satz als Alternative für den langsamen Satz des G-Dur-Konzerts für den Amateurflötisten Ferdinand Dejean entstanden sein könnte, den Mozart 1777 in Mannheim kennenlernte. Für ihn komponierte er auch das spritzig-konzertante Flötenquartett D-Dur KV 285 – kurz bevor er seinem Vater schrieb, er könne die Flöte „nicht leiden“. Aber lassen sich dieses Andante, das D-Dur-Quartett und vor allem auch der originale zweite Satz des G-Dur-Konzerts nicht gerade als Sympathiebeweise Mozarts für die Flöte hören? 

Ja, Mozarts Verhältnis zur Flöte ist gar nicht so belastet wie es im Brief klingt. Man muss bedenken, dass er hier für einen Amateurflötisten geschrieben hat: Er war auf dem Weg von Salzburg nach Paris, als er den Auftrag bekam. Außerdem war er in seiner Mannheimer Anfangszeit auch sehr verliebt, und das hört man tatsächlich in dieser Musik – im ersten #Flöten-Quartett D-Dur#, im #Flötenkonzert G-Dur# und in diesem Andante-Satz: Es ist unglaubliche Musik. Auch das #D-Dur-Flötenkonzert# und das andere #Quartett in G-Dur#, das Mozart in Mannheim angefangen hatte – tolle Musik! Doch der Amateurflötist fand es zu schwer und wollte etwas Einfacheres im Geiste der Zeit haben. Darüber hat sich Mozart natürlich empört, dass nicht seine Kunst, sein Genie gefragt war, sondern Gelegenheitsmusik. Deswegen hat er seinem Vater geschrieben, er könne die Flöte nicht leiden; wohl auch wegen der Art, wie dieser Herr Dejean für ihn gespielt haben muss. Also kein großes Problem mit der Flöte: Auch die Thematik der #Zauberflöte# und der Einsatz der Flöte generell in seinen Opern, Sinfonien und Solokonzerten hat immer etwas Besonderes. Wenn Mozart die zwei Oboen durch zwei Flöten ersetzt, bringt das eine ganz andere Farbe – Licht und Zärtlichkeit – in die Musik. 

Mittlerweile sind Sie ja auch vom Zentralgestirn Mozart in alle Richtungen aufgebrochen. Sie verlassen sich dabei auf Ihre Goldflöte, lassen sich nicht durch einen historisch überholten instrumentalen Standard einschränken … 

Auf der Goldflöte, die ich 1989 gekauft habe, nachdem ich ein paar Wettbewerbe gewonnen und ein bisschen Geld gespart hatte, kann ich alles spielen: Konzerte, Orchesterpartien, Solostücke, sei es zeitgenössisch, klassisch, barock – sogar Crossover-Projekte habe ich mit diesem Instrument gemacht. Das ist wirklich meine Stimme. Ich verstehe es als meinen Auftrag, die Grenzen möglichst weit hinauszuschieben. Deshalb habe ich mich absichtlich für ein Instrument entschieden, mit dem dies möglich ist. Ich will mich nämlich nicht spezialisieren müssen. Im Gegenteil: Ich bin jemand, der die Musik genießt und ihr dient, egal von wo und wann sie stammt. Hauptsache, ich glaube daran. 

Sie besitzen aber auch historische Flöten. Welche Erkenntnisse konnten Sie daraus für Ihre Interpretation gerade barocker Musik – Telemann, Bach, Friedrich der Große – gewinnen? 

Ich benutze sie, um die Originalklangpalette und -artikulation zu identifizieren. Das übertrage ich dann in Gedanken auf mein modernes Instrument, etwa darauf, wie ich manche Bindungen spiele oder phrasiere. Welche sind die schwachen, welche die starken Töne, welche Triller sind möglich, welche nicht? Das lässt sich mit historischen Instrumenten alles erkunden. Aber die Aufführung im Konzertsaal geht nur mit meiner Goldflöte – das Publikum will schließlich keinen Amateur auf einem anderen Instrument hören! Schließlich sind wir mit dem E-Autos oder der Bahn gekommen, es gibt Licht, Heizung – alles Sachen, die zu Mozarts Zeit nicht selbstverständlich waren. Wenn man also nach der Authentizität fragt, gibt es viel mehr Komponenten als nur auf einem historischen Instrument der jeweiligen Epoche zu spielen. Im Übrigen waren die Instrumente damals neu und nicht alt, und ein Komponist wird immer für neue Instrumente schreiben, genauso wie zeitgenössische Komponisten heute auch.

Matthias Pintscher hat Ihnen zwei Werke geschrieben: Transir für Flöte und Kammerorchester, das Sie 2006 in Luzern uraufgeführt haben, und das Solostück beyond (a system of passing) von 2013. Wie kam es dazu? 

Der Kontakt zwischen mir, dem Interpreten, und einem Komponisten entsteht immer irgendwie: Matthias Pintscher war ich schon früher bei den Berliner Philharmonikern begegnet. In Mozarts Jubiläumsjahr 2006, seinem 250. Geburtstag, habe ich mich geweigert, seine Flötenkonzerte aufzuführen. Stattdessen habe ich bei drei Komponisten neue Konzerte 

in Auftrag gegeben. Das eine, Transir, in Zusammenarbeit mit dem Lucerne Festival, habe ich mit dem Mahler Chamber Orchestra unter Daniel Harding aus der Taufe gehoben. Dann das Flötenkonzert von Michael Jarrell, das ich mit dem Orchestre de la Suisse Romande und Pascal Rophé uraufgeführt habe, und schließlich das Flötenkonzert von Marc-André Dalbavie, das mittlerweile zum Standardrepertoire gehört. Das haben wir mit den Berliner Philharmonikern, der Tonhalle Zürich und David Zinman in Auftrag gegeben. Wichtig war für mich, an meine Herkünfte anzuknüpfen, ich bin ja Franzose und Schweizer. Deshalb Jarrell (Schweizer) und Dalbavie (Franzose). Da sich mein berufliches Leben aber vor allem auch in Deutschland abspielt und die deutschsprachige Musikwelt so enorm wichtig ist in meinem Leben, war es ganz selbstverständlich, einen Komponisten wie Matthias Pintscher zu beauftragen. Das kam ihm sehr entgegen, weil er gerade nach Möglichkeiten suchte, für Orchester und Soloinstrument zu schreiben. Für das Solostück, das sieben Jahre später aus Transir hervorgegangen ist, ergab sich eine andere Gelegenheit in Salzburg. Es stellt unglaublich hohe Anforderungen, ja Herausforderungen in den vielen verschiedenen Spieltechniken, die ineinander übergehen. Beim Flötenkonzert Transir geht es um Transition, den Übergang zwischen den Klängen: Man weiß manchmal nicht, ob das Streicher, Schlaginstrumente, Flöte oder andere Instrumente sind – diese Mischung der Klänge ist einfach unglaublich. Es fordert alle Spieler heraus, und ich freue mich, diesen Weg zusammen mit der Jungen Deutschen Philharmonie zu erkunden. 

Wie üben Sie die Musik von Pintscher? 

Ich musste mich für die Uraufführung wochen- und monatelang sehr intensiv damit beschäftigen. Nicht nur, um diese verschiedenen Techniken zu meistern, sondern um sie miteinander zu verbinden, damit die Übergänge und die Verbindung zwischen Rhythmus, Klangspektrum und Harmonik mit den vielen Obertönen funktionieren. Ich habe noch viele Griffe in die Noten reingeschrieben – es gibt zwar Grifftabellen und auch Bücher, aber was dabei herauskommt, ist je nach Instrument und Spieler doch sehr unterschiedlich, gerade bei den Multiphonics (den Mehrfachklängen). Das muss man in der Vorbereitung sehr individuell gestalten. 

In beiden Stücken geht es um das Hinübergehen, Pintscher bezeichnet Transir sogar als Requiem: Wie viele Stadien durchläuft die Musik dabei? 

Die Musik hat sehr viele verschiedene Stadien. Es wird ein- und ausgeatmet in der Flöte, und dieser Klang überträgt sich wie eine Wolke ins Orchester. Manchmal gibt es einen Bruch, wenn plötzlich eine Flötenkadenz eintritt oder ein neuer Impuls, eine neue Artikulation oder wenn gar rhythmische Elemente hereinkommen. Da gibt es lange Phasen der Entwicklung und abrupte Kontrastmomente, aus denen eine neue Übergangsphase entsteht. „Requiem“ ist eine gute Bezeichnung für diese Musik: Die Flötenstimme erhält eine Spiritualität und erhebt sich wie die Seele aus dem Körper. Ähnlich übrigens wie bei Gustav Mahler. Beseelt zu komponieren, das hat Matthias Pintscher hier bravourös gemeistert. 

Gelangen Sie selbst dabei auch in eine andere Welt? 

Ja, wenn man selber spielt, ist man physisch sehr herausgefordert. Aber man darf sich vom Ausdruck nicht zu viel mitnehmen lassen, damit wir nicht die Fassung und die Gestaltung verlieren. Gleichzeitig erleben und sich davor abschirmen – das ist Bühnenerfahrung: Man muss sich in einen Zustand versetzen, in dem der Ausdruck sehr stark ist, aber man darf selbst nicht darunter leiden. Die Qualität der Aufführung steht jedenfalls an erster Stelle. 

Sind die spieltechnischen Erweiterungen der Flöte allmählich erschöpft – zumindest für den Moment? 

Nein. Die Komponisten finden immer wieder neue Kombinationen oder neue Arten, das Instrument zu bedienen. Das kommt aus verschiedenen Kulturen, es gibt 200 verschiedene Flötenfamilien in dieser Welt! Man kann sich davon inspirieren lassen. Aber es gibt keine Kultur, die das alles bewältigt, auch unsere nicht. Man bedient sich sehr vieler Inspirationsquellen. Seit dem Jahr 2000 habe ich ungefähr 50 Werke in Auftrag gegeben, darunter mehr als 15 Flötenkonzerte. Es ist schon unglaublich, was die Komponisten an Fantasien und Vorstellungen haben. 

Sie sagten einmal, dass Sie nur Musik spielen, die Sie lieben. Das ist so viel, dass die Frage nahe liegt, welche Musik Sie eigentlich nicht lieben? 

Ja, ich spiele nur Musik, die ich liebe. Vor allem wenn ich sie zum zweiten Mal spiele. Ich habe Werke uraufgeführt, die mich nicht inspiriert haben. Die kann ich nicht gut bedienen, weil ich nicht daran glaube, und die werde ich dann auch anderen Menschen überlassen. Etwa Komponisten wie Jean Françaix oder Joaquín Rodrigo – ihre Musik kann ich nicht gut über die Bühne bringen. Bei neuen Werken ist es erst mal eine Überraschung, dann muss man mit den Komponisten, den Dirigenten und Orchestermusikern einen gemeinsamen Weg finden, damit ein tolles Erlebnis herauskommt. 

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum viele der besten Flötisten aus der Schweiz kommen? 

Wir haben in Frankreich und in der Schweiz eine ganz besondere Flötenschule. Sie ist an die Tatsache gebunden, dass die Böhm-Flöte hier sehr gut akzeptiert wurde. Theobald Böhm war zwar Deutscher, aber die von ihm entwickelte Flöte fand zuerst in Frankreich Aufnahme. Dort begründeten Meister wie Paul Taffanel, Philippe Gaubert und später Marcel Moyce die neue französische Flötenschule. Ihre pädagogischen Werke wurden in viele Sprachen übersetzt, und man kann die französische Schule inzwischen überall lernen. Sie bestimmt auch nicht unbedingt den Klang, sondern vielmehr das technische Vermögen der Artikulation, Virtuosität und Intonation. Das haben meine Schweizer Lehrer wie François Binet, Peter Lukas Graf, Aurèle Nicolet oder in der früheren Generation auch André Jaunet – der Flötist der Tonhalle Zürich – in Paris studiert, haben aber ihre Karrieren auch in der deutschsprachigen Welt gemacht und sich dort musikalisch zu Hause gefühlt. Und das ist das Beste aus zwei Welten, was da zusammentrifft. Deswegen gibt es Generation für Generation eine Art Schweizer Flötenschule, die nicht zuletzt Berlin erreicht hat. Auch Nicolet war bei den Berliner Philharmonikern, hat später an der Musikhochschule in Freiburg unterrichtet. Einige Lehrer sind in Basel geblieben, andere sind nach Italien gegangen und haben dort Flötenschulen gegründet. Und inzwischen ist da ein intensives Musizieren auf der Flöte zusammengekommen, durch die tolle deutsche Literatur und das Orchesterwesen auf der einen und den Individualismus der französischen Flötenschule auf der anderen Seite mit ihrem unglaublichen technischen Vermögen. Auch mein neuer Kollege bei den Berliner Philharmonikern ist ein Schweizer: der begnadete Flötist Sébastien Jacot.