HAP20 Banner

Jim Igor Kallenberg: Von Seiten der Jungen Deutschen Philharmonie ist es das erste Mal, dass ihr mit einem Composer in Residence in die Saison geht. Was erwartet ihr euch von dieser Neuerung?

Mario Alarcón Cid: Das ist tatsächlich etwas ganz Neues für uns. Ich war Mitglied des Programmausschusses bis 2021, und da war die Idee eines Composers in Residence schon seit zwei Jahren im Raum, denn als Junge Deutsche Philharmonie identifizieren wir uns stark damit, Neues und Aktuelles ins Repertoire einzubringen und zu vermitteln. Wir haben uns viel damit beschäftigt, was wir uns von einem Composer in Residence erhoffen und welche Person wir interessant fänden. Eine wichtige Aktivität sowohl für unsere Mitglieder als auch für die Erfahrung von Musik allgemein sind unsere sogenannten Kamingespräche, bei denen wir mit den Dirigenten, den Solisten oder den Komponisten, mit denen wir zusammenarbeiten, einen Dialog etablieren können. Das Interesse des Orchesters daran ist sehr groß. Es ist für uns eine Möglichkeit, als Orchester, aber auch als individuelle Musiker einen neuen Bezug zu der Musik, die wir spielen, zu bekommen. Gerade die zeitgenössische Musik erfordert eine jeweils eigenständige und explorative Bezugnahme durch uns Musiker. Man spürt, dass die persönlichen Bezüge dann auch in den Proben und Konzerten zur Geltung kommen, und wir sind davon überzeugt, dass man das im Publikum spürt. Dadurch ist die Überlegung gereift, mit einem Composer in Residence zusammenzuarbeiten, um innerhalb einer Saison eine nachhaltige Zusammenarbeit kultivieren zu können. Wir sind sehr froh, dass wir die Zusammenarbeit mit Ihnen, Herr Pintscher, etablieren konnten!

Matthias Pintscher: Und ich auch! Es wäre auch überraschend, wenn ein Orchester wie das Ihrige sich nicht dem Repertoire unserer Zeit öffnen würde, wenn ein Orchester wie die Junge Deutsche Philharmonie nicht glühender Anwalt des Dialoges von Altem und Neuem wäre. In einem solchen beleuchten sich beide gegenseitig, und es wäre eine verpasste Chance, diesen Dialog nicht zu führen. Insofern freue ich mich wahnsinnig, dass ich für dieses Jahr bei Ihnen sein darf. Es geht nicht darum, die Neue Musik als Neue Musik auszustellen, sondern sie als organische Verlängerung des großen Repertoires zu verstehen. Brahms können wir zwar nicht mehr anrufen, wir können aber den Dialog mit seinen Werken im Jetzt führen. 

Dialog heißt in meinem Verständnis auch, dass der Autor der Musik Fragen an Sie, die Musiker, stellen kann. Sicherlich ist es für die Mehrheit der Musiker die erste Begegnung mit meiner Musik. Ich wünsche mir für dieses Jahr, dass Sie ihr mit aller Offenheit und Kritik begegnen und nicht zu ehrfürchtig sind. Nach meiner Erfahrung dauert es oft, bis das Eis gebrochen ist, wenn auf einmal der Autor am Pult steht. Das ehrt mich natürlich, aber ich bitte darum, dass wir uns gegenseitig genauso Fragen stellen können, als wenn wir eine Bruckner-Sinfonie spielten. Und es ist nicht wesentlich, dass ich der Autor bin, sondern auch ich versuche, Anwalt meiner eigenen Partitur zu werden. Ich muss diese Partitur selbst wieder lernen, und dann werde ich ebenfalls Interpret. Das ist ein lebenslanger Prozess, so, wie wenn wir Beethoven spielen, da kommt man ja auch nie an. Das ist mit der eigenen Musik genauso, und man beginnt, sich selbst zu interpretieren.

Jim Igor Kallenberg: Herr Pintscher, neben der Interpretation Ihrer Werke, was bedeutet es für Sie, als Composer in Residence über einen längeren Zeitraum bei der Jungen Deutschen Philharmonie zu residieren? 

Matthias Pintscher: Composer in Residence ist ja etwas old-fashioned. Ich finde, das Wichtige ist, dass es hier um eine künstlerische Partnerschaft geht. Das Orchester hat ja selbst keine Residenz, es bewegt sich alles in einem offenen Raum. Statt Composer in Residence würde ich sagen: Composer in Presence. 

Ich wünsche mir, die komplette Spielzeit der Jungen Deutschen Philharmonie zu begleiten, real und virtuell. Mir ist wichtig, zu erfahren, was die junge und jüngste Generation von Musikern in Europa bewegt. Ich habe Initiativen dieser Art in Amerika gemacht und bin insofern jetzt wahnsinnig gespannt, in meinem Heimatland zu spüren, was heute geschieht. Dieser Dialog ist das, worauf ich mich am meisten freue. Es geht nicht um meine Musik, sondern darum, an der Schnittstelle der Veränderung zu sein und da ein Gespür zu entwickeln. Die sogenannte ernste klassische Musik ist dabei, sich neu zu orientieren. Es geht um Diversität von Persönlichkeiten, Stilen und Identitäten. Das sind große Aufgabenstellungen, die aus der gesellschaftlichen Mitte kommen. Deswegen ist es für mich auch sehr einleuchtend, dass hier ein Komitee, ein künstlerischer Ausschuss, daran arbeitet, eine Vision für eine Spielzeit zu entwickeln. Das ist ohne Frage die Zukunft. Klar, Orchester brauchen Intendanten, sie brauchen strukturelle Führung. Aber ich glaube, die Vision, mit der Musik auf Gesellschaft einzuwirken, kommt von innen, nämlich von den Künstlern selbst.

Jim Igor Kallenberg: Erlauben Sie einen kleinen Exkurs zu Ihrem Lehrer und Mentor Pierre Boulez. Er war ebenfalls an Tuchfühlung interessiert – mit der jüngeren Generation von Musikern sowie zwischen alter und neuer Musik. Er hat zum Beispiel das Jugendfestspieltreffen in Bayreuth geleitet, um mit jungen Musikern Repertoire aus unterschiedlichen Zeiten zu interpretieren. Haben Sie in dieser Hinsicht etwas von Boulez mitgenommen? 

Matthias Pintscher: Ich habe natürlich wahnsinnig viel von Boulez gelernt. Wir haben uns in den zehn letzten Jahren seines Lebens sehr angefreundet und viel Zeit miteinander verbracht. Das hieß, dass ich immer dann, wenn ich ein neues großes Stück aus dem Repertoire zum ersten Mal gemacht habe, etwa Schönbergs Variationen für Orchester oder Bartóks 2. Violinkonzert – schwierige Sachen –, immer gefragt habe: „Pierre, hast Du Zeit, können wir uns sehen?“ Und er hatte sofort Zeit, ich bin zu ihm nach Baden-Baden gefahren, oder wir haben uns in Paris getroffen und den ganzen Nachmittag zusammen auf der Couch mit unseren Partituren verbracht und uns Fragen gestellt. Für Boulez war es immer spannend, uns, der jüngeren Generation, Fragen zu stellen. Er hat mich nie „unterrichtet“. Er hat nie gesagt, was zu tun ist. Wir haben philosophisch und ästhetisch Notentexte diskutiert. Vor allem aber habe ich durch Boulez gelernt, wie sich Musikgeschichte zusammenfügt: dass der späte Brahms schon der frühe Schönberg ist, dass der späte Schubert schon der frühe Bruckner ist – musikgeschichtliche Scharniere, Schnittstellen, Transformationen und Durchgänge. Unglaublich berührt hat mich aber seine absolute, radikale Neugier und Offenheit. Und es ist davon auch etwas geblieben: Boulez hat etliche Institutionen gegründet und angestoßen, in denen wir jetzt leben, arbeiten und musizieren dürfen. Es sind keine Tempel für Boulez, sondern Orte für unsere Arbeit in der Gegenwart. Wenn ich von dieser Haltung etwas weitergeben kann, wäre ich froh, denn es ist viel wichtiger, zu teilen als zu haben. Und so wünsche ich mir von dem Jahr, das wir nun zusammen verbringen, dass wir gegenseitig Eindrücke teilen können und eine vertrauensvolle Offenheit für unseren Dialog finden. Das war Boulez: totale Offenheit und ein großer und strenger Selbstanspruch.

Jim Igor Kallenberg:Nun arbeiten Sie mit der Jungen Deutschen Philharmonie zusammen, einem Orchester, das in ausgesprochener Weise von der jungen Generation getragen wird und durch Vorstand und Programmausschuss sogar völlig unter „demokratischer“ Kontrolle der jungen Generation ist. Wie lief die Zusammenarbeit, wie hat sich die Residenz – oder: Co-Präsenz – in der Programmgestaltung geltend gemacht? Wie gestaltet sich die Arbeit im Programmausschuss?

Mario Alarcón Cid: Der Programmausschuss setzt sich aus Mitgliedern des Orchesters zusammen, die von den Orchestermitgliedern gewählt werden – so wie unser Vorstand. Wir arbeiten also organisatorisch völlig selbstverwaltet und demokratisch, das Orchester wird von seinen Mitgliedern geführt. So machen sich in unseren Programmen die Interessen der Orchestermusiker direkt geltend. Im Programmausschuss engagieren sich Mitglieder, die besonders gern und vielfältig Musik hören. Es kommen daher viele spannende Vorschläge, auch Neues und Unbekanntes, das man so kennenlernt. Bei uns ist es schon Tradition, einen roten Faden in der Programmgestaltung zu haben. Bei unserem Herbstprogramm FLÜSSE haben wir tatsächlich das Programm um Stücke gereiht, die weniger die großen Inseln der Musikgeschichte markieren, sondern Stücke des Übergangs sind. 

Matthias Pintscher: Mich hat die Ernsthaftigkeit des Ausschusses sehr berührt. Da wurde nichts einfach durchgewinkt, sondern alles genau angeschaut, geprüft, abgewogen und durchdacht. Wir haben den Garten des künstlerischen Inhalts von Anfang an gemeinsam bepflanzt, und dann konnten wir in der engeren Entscheidung darin spazieren und konkret Konstellationen für die einzelnen Konzerte bauen. Die Saisoneröffnung im Herbst war besonders wichtig, da wollte ich ein großes symphonisches Werk des frühen 20. Jahrhunderts im Programm haben, aber eines, das nicht so oft gespielt wird. Mir war die Schnittstelle von der Spätromantik in die Moderne wichtig, eben weil es der spannende Ort des Übergangs einer Gestalt in die nächste ist. Mich interessiert diese Zwischenwelt. Da wird an Tradition musikalisch tatsächlich gearbeitet. Zemlinsky wird nicht so häufig gespielt, sodass wir uns noch überraschen lassen können und alle, Publikum und Interpreten, frisch dazukommen und nicht schon etliche Aufnahmen kennen. Dennoch ist es stilistisch gut erkennbar. Hier können wir als Orchester primär an der Farbgestaltung arbeiten. Darauf freue ich mich sehr, das wird uns Freude machen! Und dann spielen wir das Orchesterstück Neharot, das ich 2020 in der Hochphase der Pandemie geschrieben habe. Dieses Jahr 2020 war wie bei allen meinen Kollegen ein totaler Abbruch der Aktivität. Ich war froh, auch Komponist zu sein, sodass ich einen Grund hatte, morgens aufzustehen, nicht in Depressionen zu versinken und darauf zu warten, irgendwann wieder für ein Publikum musizieren zu dürfen. Das Stück trägt die ganze Bitterkeit dieser Zeit in sich. Neharot ist ein hebräisches Wort, das nicht nur „Flüsse“ bedeutet, sondern auch „Tränen“. An der hebräischen Sprache ist schön – ich bin jüdisch und habe als Kind Hebräisch gelernt –, dass die Worte ikonographisch sind und daher in verschiedene Richtungen gehen können, je nachdem, in welchem Zusammenhang sie auftreten. Das macht die Sprache unheimlich poetisch. Biblisch kommt „Neharot“ von den Tränen der Töchter Babylons. Ich war damals in New York, wir wohnten direkt am Hudson River, und dort dockte das riesige Militärschiff mit einigen tausend Krankenbetten für die Infizierten an. Das Bild war apokalyptisch: diese stillgelegte Stadt, die normalerweise vor Menschen und Aktivität platzt, und dann dieser riesige ehemalige Tanker, der wie in Zeitlupe gleitet. An diesem bedrückenden Bild hat sich das sehr dunkle Stück entfacht. Und das kann jeder Zuhörer intuitiv erfahren, da geht es nicht um irgendwelche musikhistorischen oder -theoretischen Kenntnisse, sondern es ist eine offene Form, die für jeden zu interpretieren ist. Musik ist immer Schwingung in der Luft, die von Menschen erzeugt wird – wenn der Bogen abgesetzt wird, ist der Klang weg. Das gehört auch zum fließenden Charakter der Musik. Neharot hat den Covid-Stempel, den ich ihm auch selbst aufgedrückt habe, aber es ist nicht nötig, dass das Publikum genau das identifiziert, sondern es geht um den Charakter und die Empfindung, die musikalisch ausgelöst wird. Ich wollte das Fließende im Programm des Eröffnungskonzerts erfahrbar machen. Wir spielen ein zeitgenössisches Stück von mir, Felix Mendelssohn und Alexander von Zemlinsky, und man kann musikalisch hier Tradition, Schnittstellen und Transformationen erfahren. Mein Stück Mar’eh für Violine und Orchester, das im Frühjahr von der Jungen Deutschen Philharmonie gespielt wird, war der Versuch, an den Charakter des Mendelssohn-Violinkonzerts anzuknüpfen, also eine große Linie aus der eigenen Intuition, ohne die Zerklüftung von Abgründen, Zusammenbrüchen und Drama. Mar’eh ist wieder ein hebräischer Titel und bedeutet „Antlitz“, beschreibt aber auch einen Anblick, der schön ist: Der brennende Dornbusch in der Wüste ist ein Mar’eh, ein schönes Gesicht ist ein Mar’eh. Das ist wieder so großartig, dass die Sprache so reich in verschiedene Richtungen deutet. Und ich hoffe, dass wir so einen vielgestaltigen und fließenden Charakter auch im Programm dieser Saison vermitteln können.