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Musik fließt. Sie ist der Inbegriff der Vergänglichkeit und erklingt nur im Moment, befindet sich also immer im Verschwinden – trotz unserer Versuche, sie festzuhalten, aufzunehmen, aufzuschreiben. Sie drückt unbeschreibbare Gefühle, Ideen, Gedanken aus, regt unser Unbewusstes an und lässt sich nie gänzlich durch Worte oder Noten einfangen. Musik ist deshalb wohl diejenige Kunstform, die am besten geeignet ist, das Unbewusste auszudrücken. Sie selbst lebt im ständigen Wandel und Wechsel. „In die gleichen Ströme steigen wir und steigen wir nicht; wir sind es und sind es nicht… Auch Seelen dampfen herauf aus dem Feuchten.“ In dieses Bild fasste der vorsokratische Philosoph Heraklit seine Theorie des beständigen Wandels, und auch die Musik in ihrer Geschichte ist ein Strom, aus dem Seelen vorheriger musikalischer Werke „aufdampfen“Sie tauchen auf beim Komponieren, beim Spielen und Hören, und sie gehen ein in eine neue Gestalt des Klangs. 

Das Konzertprogramm FLÜSSE ist ein gutes Beispiel für den fließenden, fragilen Charakter der Musik. Die drei Werke markieren Durchgangsmomente musikalischer Transformationen, sind wandelnde Übergänge der Musikgeschichte. Sie versuchen das Unmögliche: Tod, Leben, Liebe – also Wandel und Vergänglichkeit – einen Moment lang zu fassen, auszudrücken und aufzuheben.

Matthias Pintscher (*1971)
Neharot für Orchester (2020)

Mit einem von Röhrenglocken und Blechbläsern gezeichneten Fanfaren-Einstieg beginnt Neharot wie ein Aufschrei. Die Stimmung verdunkelt sich schon nach einigen Takten. Eine drückende Schwere entfaltet sich, mal bleibt sie unterschwellig, ein anderes Mal schwillt sie zu einem tobenden Ausbruch an und bricht gewaltsam ins Bewusstsein ein. Vereinzelt erklingen solistische Melodien, die einsam und verloren wirken über dem düsteren, zischenden Klangteppich, der sich durch das gesamte Werk zieht. Es bildet sich ein musikalischer Raum, in dem abrupte, aufschreiende Sforzati tiefen, dunklen Klangfarben und berührenden Melodien begegnen; in dem sich Geräusche und Klänge vereinen und wieder trennen. Pintscher beschwört in seiner Komposition nicht nur eine vielschichtige Klangmasse herauf, sondern auch mit ihr verwobene Gefühle und Erinnerungen, die sich wie die einzelnen Orchesterstimmen zu verselbstständigen scheinen. Angst und Trauer sowie die immer wieder hell aufscheinende Hoffnung stehen hinter der Musik. Sie nimmt den Hörenden mit zurück in eine Zeit voll Schmerz, Einsamkeit und Sehnsucht nach Stabilität. Das Stück wurde 2020 komponiert und fängt die Unsicherheit der Hochphase der Covid-Pandemie ein. Der Komponist lebte zu der Zeit im weitgehend stillgelegten New York, das sonst vor Leben sprudelt. Der Titel Neharot bedeutet sowohl Flüsse als auch Tränen, das Wort kann verschiedene Bedeutungen haben, je nachdem, in welchem Kontext es verwendet wird. Neharot enthält jedoch auch ein Element der Hoffnung: Die Wurzel des hebräischen Wortes „Nahar“ (Fluss) ähnelt dem Wort „Nehara“, was „Lichtstrahl“ bedeutet, welcher aus der dunklen Klangfarbe immer wieder, beispielweise als unerwartetes Klingeln der Zimbeln, herausblitzt.

Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847)
Konzert für Violine e-Moll op. 64

Mendelssohn brauchte sechs Jahre, um sein letztes Konzert, das Violinkonzert in e-Moll, fertigzustellen. Zwischen Juli 1838 und September 1844 arbeitete er immer wieder an dem Werk, in dem er Altes und Neues zusammenbringen wollte.Mendelssohn befasste sich sein Leben lang mit dem fließenden Charakter der Musik: als Dirigent, Musiker und Komponist. Er setzte sich dafür ein, Werke von Bach und Händel aufzuführen und leitete so die Wiederentdeckung J. S. Bachs ein. Sein Schaffen trug wesentlich dazu bei, Musik als etwas historisch Gewordenes zu verstehen. Nietzsche schreibt über ihn: „Er besaß eine Tugend, die unter Künstlern selten ist, die der Dankbarkeit ohne Nebengedanken: Auch diese Tugend weist immer hinter sich.“ Diese Haltung zeigt sich auch in seinen Kompositionen: Seine musikalische Sprache verbindet klassische Formen mit frischen Ideen.

Sein Violinkonzert beginnt anstelle des üblichen Orchestervorspiels schon im zweiten Takt mit der Solovioline und ihrem lyrischen, aufschwingenden Hauptthema, das von einer laufenden Begleitung des Orchesters untermalt wird. Die Solokadenz befindet sich nicht wie bis dahin üblich am Ende des 1. Satzes, sondern in der Durchführung. Fließend sind auch die Übergänge zwischen den Sätzen. Nach Verklingen des Schlussakkords des 1. Satzes bleibt das Fagott alleine auf einem Ton liegen und leitet so den langsamen 2. Satz ein. Die Violine tritt hinzu und singt ihre Melodien über das begleitende Orchester. Im dramatischeren Mittelteil steigert sich der 2. Satz durch Doppelgriffe in der Violine und fließende Begleitbewegungen, um dann wieder im melodiösen Anfangsthema zur Ruhe zu kommen. Nach einer langsamen, solistischen Überleitung vom 2. zum 3. Satz erklingen Fanfaren, und das Konzert endet in einem belebten, heiteren und schnellen Spiel von Violine und Orchester. Mendelssohns fließende Übergänge haben übrigens auch die moderne Tradition eingeleitet, mit dem Beifall bis zum Schluss eines Stückes zu warten und nicht zwischen den Sätzen zu applaudieren.

Alexander von Zemlinsky (1871–1942)
Die Seejungfrau

Tief unten im Meer lebt eine kleine Seejungfrau, die sich nach der bunten Menschenwelt sehnt, danach, wie die Menschen eine unsterbliche Seele zu erlangen. Einzig durch die Liebe eines Menschen ist es ihr möglich, diese Unsterblichkeit zu erhalten. Sie rettet einen jungen Prinzen vor dem Ertrinken, verliebt sich in ihn und setzt ihr ganzes Schicksal aufs Spiel: Von der Meereshexe lässt sie sich Beine geben, muss dafür aber mit ihrer Stimme bezahlen. Stumm kommt sie zu dem Prinzen ins Schloss, dieser hat aber nur Augen für ein anderes Mädchen. Gequält davon, dass ihre Liebe nicht erwidert wird, muss sie damit rechnen, bald selbst zu sterben, wenn ihr Plan nicht aufgeht. Der Prinz bereitet seine Hochzeit mit dem anderen Mädchen vor. Damit ist ihre Zeit vorbei, einen Menschen für sich zu gewinnen. Sie hat nur noch eine Möglichkeit: den Prinzen zu töten und wieder zur Seejungfrau zu werden. Da sie das aber nicht übers Herz bringt, wird sie vom Tod verschont und in einen Luftgeist verwandelt.

Zemlinsky schrieb seine dreiteilige Fantasie für Orchester zwischen 1902 und 1903. Sie entstand kurz nach einer sehr intensiven Liebesbeziehung mit Alma Schindler. Diese endete abrupt, als Alma nicht Zemlinsky, sondern Gustav Mahler heiratete. Zemlinsky stürzte sich ins Komponieren. An seinen Freund und Schüler Arnold Schönberg schrieb er 1902: „Meine symf. Dichtung wächst mir allmählich über den Kopf. Sie wird immer grösser, aber auch tiefer durchdacht, u. ich hoffe, nicht ganz schlecht: Zufrieden – das werden wir beide – hoffentlich nie sein.“ Die Uraufführung der Seejungfrau war kein großer Erfolg. Nach der Machtergreifung der Nazis und Zemlinskys Flucht ins amerikanische Exil war sein Werk jahrzehntelang vergessen und wurde erst 1984 wieder aufgeführt.

Zemlinskys Seejungfrau fängt den Übergang von spätromantischem Expressionismus zum Modernismus ein. Die Instrumentation und ihre expressive Klanglichkeit mit schillernden Verzierungen und ornamentalen Motiven erinnern an den Jugendstil der Jahrhundertwende. Seine Musik eröffnet eine Zwischenwelt, in der die Seejungfrau ihre Gestalt wechselt, vom Wasserwesen zum Menschen und schließlich zum Luftgeist wird. Auch die musikalische Gestalt ist im Fluss. Die Musik malt in tiefen Tönen und der aufsteigenden Streichermelodie die gleichsam schöne wie unheimliche Meereswelt. Motive blitzen auf: die dunkle Tiefe, das klare Blau, sich bewegende Pflanzen, das prächtige Schloss des Meereskönigs und die schöne kleine Seejungfrau. Melodien werden, ähnlich Wagners Leitmotiven, eingesetzt, um bestimmte Gefühlszustände, Ideen, Orte anzustimmen. Die widersprüchlichen Gefühle der stummen Meerjungfrau – ihre Sehnsucht, ihre Liebe, ihr Heimweh, ihr Schmerz – werden durch die aufwühlende, hoch expressionistische Tonsprache zum Leben erweckt. 

Der Versuch, den fließenden Charakter der drei beschriebenen Werke durch Worte einzufangen, ist natürlich unzulänglich. Es braucht die Musik, die für sich selbst spricht. Mendelssohn schrieb darüber 1842 in einem Brief: „Ich glaube überhaupt, die Worte reichen nicht hin dazu, und fände ich, daß sie hinreichten, so würde ich am Ende gar keine Musik mehr machen. – Die Leute beklagen sich gewöhnlich, die Musik sei so vieldeutig; es sei so zweifelhaft, was sie sich dabei zu denken hätten, und die Worte verstände doch jeder. Mir geht es aber gerade umgekehrt. Das, was mir eine Musik ausspricht, die ich liebe, sind mir nicht zu unbestimmte Gedanken, um sie in Worte zu fassen, sondern zu bestimmte. So finde ich in allen Versuchen, diese Gedanken auszusprechen, etwas Richtiges, aber auch in allen etwas Ungenügendes.“ 

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Nora Sprenger, Musikwissenschaftlerin