50 Jahre jung und vielstimmiger denn je:
ein „basisdemokratischer Haufen“ namens Junge Deutsche Philharmonie
Wir schreiben das Jahr 1974: Es ist das Jahr, in dem das Werbeverbot für Zigaretten im Fernsehen eingeführt wurde, eine Errungenschaft. Der Bundestag beschließt, das Alter für die Volljährigkeit von 21 auf 18 zu senken, gut so. Im Sommer dann: Deutschland wird Fußballweltmeister im eigenen Land, Jubelstimmung.
Und musikalisch? Die 1974 meistverkaufte Single in Deutschland heißt Kung Fu Fighting, zum „Sommerhit des Jahres“ erklärt die westdeutsche Musikindustrie Vicky Leandros’ Song Theo, wir fahr’n nach Lodz. Mit Waterloo gewinnt ABBA den Grand Prix d’Eurovision de la Chanson, mit „Autobahn“ erschien das vierte Studioalbum der Band Kraftwerk.
Und dann war da noch diese kleine Rebellengruppe, eine gute Handvoll junge Musikerinnen und Musiker aus dem Bundesjugendorchester. Deren Zeit dort war 1974 abgelaufen, sie hatten aber keine Lust auf die „Tretmühle“ Berufsorchester. Jürgen Normann, Kontrabassist, war einer von ihnen, angesteckt von der Idee, ein Orchester zu formieren im Geist des Aufbruchs. Basisdemokratisch, offen für Neues, alle auf Augenhöhe miteinander. Plötzlich stand da also 1974 die Junge Deutsche Philharmonie im Raum, wie aus dem Hut gezaubert? Keineswegs. Denn anders als Fußball-Sommermärchen und Kung-Fu-Sommerhit verkaufte sich diese Idee erst einmal nicht wie geschnitten Brot. Normann, der Bassist, musste regelrecht um Musiker betteln. So hat er in den Semesterferien Professoren durchtelefoniert und gefragt, ob jemand einen Studierenden zur Verfügung stellen könnte. „Das war schon sehr schwierig, denn uns kannte ja noch keiner. Nach dem Bundesjugendorchester wollten wir weitermachen und brauchten etwas Neues auf diesem Niveau. Die Hochschulorchester, die es damals gab, waren eine eher unschöne Angelegenheit, da wollte man wirklich nicht hin.“
Wenn Jürgen Normann von den Anfängen der Jungen Deutschen Philharmonie spricht, klingt das so lebendig und präsent, als wäre es gestern gewesen und nicht vor 50 Jahren. Er ist mittlerweile im Ruhestand, nach mehr als vier Jahrzehnten als Solo-Kontrabassist der NDR Radiophilharmonie in Hannover. Es müssen turbulente erste Monate und Jahre gewesen sein, und es ist dann doch enorm schnell gegangen. 1975 hat das Orchester in Witten an der Ruhr einen Konzertsaal eingeweiht, 1976 erspielte man sich den ersten Preis beim Herbert-von-Karajan-Wettbewerb, „das war der Ritterschlag“, und 1977 folgte bereits die erste Plattenaufnahme mit Hans Wallat am Pult, Berlioz, die Symphonie fantastique – „die passte gut zu dem jugendlichen Überschwang des Orchesters“.
Das stimmt, diese Sinfonie steht für Sex, Drugs, Rock’n’Roll – mit einem Kater-Erwachen allerdings für die JDPh, denn die komplette Nachtaufnahmesitzung war für die Katz gewesen, weil das analoge Band vorher nicht ordnungsgemäß gelöscht worden war. „Da war die Moral am Boden“, erinnert sich Normann. Neuaufnahme, zwischen Tournee-Tage gequetscht, „eigentlich höchst unseriös“, und dennoch den Deutschen Schallplattenpreis dafür bekommen. „Ja, das war schon eine spannende Zeit.“
Schallpalttenaufnahme 1979 mit Hans Zender (Mitte sitzend).
Stehend hinten: Dietmas Wiesner, Claudia Schneider, Reiner Wehle, Hans-Peter Wirth
Credit: Kranick Foto
Wenn es um die Werte, Ideale und Ziele der Jungen Deutschen Philharmonie geht, werden immer die Selbstorganisation und die Basisdemokratie genannt, Normann hat sie lebhaft in Erinnerung: „Es hat uns niemand etwas vorgeschrieben, wir konnten alles selber machen – was aber eben auch zu endlosen internen Diskussionen bis in die frühen Morgenstunden führte. Bis wir zum Bier kamen, war eigentlich schon Zeit fürs Frühstück.“ Und es wird die Abkehr von einer immer gleichen Werkauswahl ins Feld geführt – doch das muss der Kontrabassist der ersten Generation etwas relativieren. „Unsere ersten Konzertprogramme waren eher Standard, Schubert, Mozart, wenig originell“, so Normann im Rückblick. „Dazwischen aber dann die #Symphonie en ut# von Strawinsky, die war wirklich haarig und schwer für uns, da haben wir uns fast die Zähne daran ausgebissen. Aber es war uns klar: Wir müssen uns auch damit beschäftigen. Ich habe die noch einmal gespielt vor drei Jahren, in meinem letzten Dienst, vor einem leeren Saal, in Corona-Besetzung. Und sie war keinen Deut leichter als damals vor über 40 Jahren!“
1986 in der Fabrik Hamburg
Credit: José Luis Camejo
Einer, der die Gründung der Jungen Deutschen Philharmonie quasi von der anderen Seite beobachtet hat, ist der Dirigent Lothar Zagrosek. Ein „spätes Wetterleuchten der 68er Bewegung“ sei das gewesen, schrieb Zagrosek anlässlich des 40-jährigen Jubiläums 2014. Es wurde „für Orchestermusiker ebenso wie für Dirigenten ein Sehnsuchtsziel, dort eingeladen zu sein: ein selbstverwaltetes Orchester, Musiker, die Augenhöhe zu ihren Dirigenten und Geschäftsführern beanspruchten, die ihre Programme, ihre Spielorte, ihre Solisten, einfach alles selbst bestimmten. Ich kannte bis dato nur Orchester, die mehr oder weniger motiviert, oft konfrontativ, fast immer mit einem Gefühl des Ekels Neue Musik spielten und gerne auch junge Dirigenten drangsalierten.“ Zagrosek wurde Erster Gastdirigent, Mentor und Künstlerischer Berater des Orchesters, für fast zwanzig Jahre.
Am 11. September 1999 trat in der Alten Oper Frankfurt ein Jubiläumsorchester auf, man feierte 25 Jahre Junge Deutsche Philharmonie, also halbe Strecke aus heutiger Sicht. Die Besetzung: ehemalige Mitglieder. Nicht alle haben die Berufsmusikerlaufbahn weiter verfolgt, manche wurden Arzt, Pastor, Fotograf. Doch da spielten auch Thomas Hengelbrock mit und Jun Märkl, heute renommierte Dirigenten, die Musikmanager Karsten Witt und Matthias Ilkenhans sowie die Ensemble-Modern-Mitglieder Michael Kasper und Rumi Ogawa-Helferich, um nur ein paar zu nennen. Alle können sie ungewöhnliche oder aufregende JDPh-Stories erzählen. Jun Märkl erinnert sich, wie er seinerzeit die Instrumententransporte mit dem 7,5-Tonner gefahren hat, „Da kam ich mir ganz groß vor.“ Auch der Klarinettist Reiner Wehle hat sie nicht vergessen, die „unglaubliche Berlioz-Schallplattenaufnahme mit den vielen Pannen – immer noch eine Geschichte, die ich gerne erzähle.“ Gemeinsam mit seiner Frau Sabine Meyer war auch er JDPh-Mitglied der späten 1970er. „Ich habe davon unglaublich profitiert!“, sagt Sabine Meyer, die nach ihrer Zeit im Orchester eine Solokarriere als Klarinettistin eingeschlagen hat.
1998 mit Sabine Meyer und Andreas Delfs
Credit: David Ausserhofer
„In der Orchesterlandschaft besetzen wir eine winzige Nische. Wir sind das, was eine Gesellschaft sein sollte: demokratisch, tolerant, extrem leistungsfähig und engagiert“, so fasste es Matthias Ilkenhans vor 20 Jahren zusammen, damals als Geschäftsführer der JDPh. Heute ist er Intendant der NDR Radiophilharmonie und weiß, dass diese „Nische“ nicht mehr winzig ist, was nicht zuletzt auch auf die JDPh selbst zurückzuführen ist. Er zählt sie auf, die Formationen, die im Laufe der Jahre aus diesem Orchester heraus gegründet wurden und in denen sich dieser Geist des konstruktiven Miteinanders und der Identifikation mit dem eigenen Ensemble fortgepflanzt hat: Ensemble Modern, Freiburger Barockorchester, die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, Ensemble Resonanz – in Letzterem spielt übrigens Ilkenhans‘ Frau, die beiden hatten sich während einer Probenphase der JDPh kennengelernt. „Wenn wir beim Frühstück sitzen, spreche ich über die Anstalt, in der ich arbeite, und sie über die Basisdemokratie, in der sie arbeitet – und beide regen wir uns darüber auf“, scherzt er. Beide Welten sitzen bei Familie Ilkenhans am Küchentisch, und beide können gut umeinander kreisen. Denn, so Ilkenhans: „Ich habe mit Anspruch und Wirklichkeit immer etwas gehadert: Auf der einen Seite die basisdemokratischen Revolutionäre, doch auf der anderen dann die Tatsache, dass bei zeitgenössischen Werken viele Aushilfen gebraucht wurden, weil nicht alle Mitglieder Bock darauf hatten. Mittlerweile aber habe ich meinen Frieden damit gemacht, denn es braucht die Revolutionäre, aber es braucht auch die, die einfach nur ihre Musik machen wollen.“
FREISPIEL 2008 im Radialsystem
mit Sasha Waltz & Guests
Credit: Achim Reissner
Musiker*innen bleiben ungefähr drei Jahre, obwohl sie rein rechnerisch etwa zehn Jahre im Orchester spielen könnten. Die meisten gehen von der JDPh direkt in ein Profi-Orchester, was ja ein hervorragender Grund für einen Wechsel ist. Doch Thomas Wandt sieht auch, dass solche Stellen zunehmend schwerer zu bekommen sind. „Viele Orchester bieten zwar vermehrt Akademie- oder Praktikumsstellen an, aber keine festen.“ Wandt ist Projektmanager bei der JDPh, hat dort als Stage-Assistent 2001 begonnen und hat als der langjährigste Mitarbeiter den Langzeitüberblick. „Trotz des großen Orchesterangebots für Musikstudierende und des Drucks, sich als möglichst flexibel auf dem Arbeitsmarkt beweisen zu, gibt es Mitglieder, die sechs oder mehr Jahre bei uns bleiben – auch, um Funktionen in Gremien zu übernehmen. Sie wollen sich engagieren und etwas mitnehmen neben dem eigentlichen Musizieren.“
Damit bestätigt er, was Matthias Ilkenhans meint, wenn er sagt: „Ich glaube, es ist irreführend, so zu tun, als wären da durchweg hundert Revoluzzer am Werk. Das ist auch gar nicht nötig. Denn diejenigen, die inhaltlich arbeiten wollen, haben hier die Möglichkeit – und sonst kaum wo.“ Eine, die inhaltlich arbeiten möchte in Gremien und im Orchestervorstand, ist die Geigerin Nina Paul. Für sie erscheint der Gründungsmythos wie ein fernes Echo. Ja, sagt sie, man habe davon eine gewisse Ahnung, aber: „So revolutionär wie damals kann das Orchester heute gar nicht mehr sein, denn es ist ja mittlerweile eine gewachsene Institution. Damals musste gekämpft werden etwa für die Neue Musik – heute sind wir dafür bekannt, dass wir genau das machen.“ Ihr Vorstandskollege Jonas Hintermaier ergänzt: „Unsere Generation möchte wahrscheinlich auch gar nicht so rebellisch sein, sondern hat ganz andere Ziele.“ Flexibilität gehöre dazu, auf der anderen Seite aber auch Sicherheit. „Solche Überlegungen sind heute sicher aktueller als vor 50 Jahren.“
Gestern Idealismus, heute Pragmatismus? Derart grob heruntergebrochen lässt das Nina Paul nicht gelten. „Der Raum zum Träumen ist nach wir vor da. Jede und jeder kann seine Visionen einbringen.“ Sie nennt als Beispiel das FREISPIEL, für sie die „wohl revolutionärste Errungenschaft der letzten Jahre“. Eine „radikal spartenübergreifende Konzertform, ein Experimentierraum mit allen Freiheiten. Nach dem Move der Gründung 1974 machte und macht das Orchester immer wieder solche Schübe, der Prozess ist also keineswegs abgeschlossen.“
FREISPIEL 2022
Credit: Salar Baygan
Das Orchester ist jedenfalls im Laufe der Jahre vielstimmiger geworden. Fragen wie „Wie lassen sich Orchesterreisen ökologisch vertretbarer durchführen?“ oder „Wie vegan soll die Kantine sein?“ werden gestellt und kontrovers diskutiert. „Die Themen, die unsere Gesellschaft beschäftigen, beschäftigen natürlicherweise auch unser Orchester“, sagt Nina Paul. „Und da wir ein basisdemokratischer Haufen sind, werden die Dinge ausdiskutiert.“ „Wir im Vorstand erleben oft, dass wir uns zwar intern erst einmal einig sind, aber dann in den Vollversammlungen mit einem ganz anderen Meinungsbild konfrontiert werden, ob das jetzt die Notwendigkeit von Education-Projekten oder die Kleidungsordnung betrifft“, erklärt Jonas Hintermaier. „Da ist die Stimmung im Orchester mittlerweile weniger radikal und auch weniger politisch eindeutig. Das Orchester hat ja aktuell rund 250 Mitglieder, da kann es auch keine politische Einstimmigkeit geben.“ Und Nina Paul: „Weil wir Demokratie ernst nehmen, wollen wir als Vorstand auch die Meinungen gelten lassen, die nicht unbedingt unseren persönlichen entsprechen. Wir können uns nicht auf allen Feldern eindeutig positionieren, da wir alle Mitgliedsmeinungen mit einbeziehen möchten. Das ist einer der Grundwerte, für die die JDPh steht.“
Radikal waren ja nie alle in der JDPh. Als man, lange ist’s her, von der BASF nach einem Konzert zum Steak-Essen eingeladen worden war, verweigerte sich auch nur die Hälfte der Musiker*innen dem „Bonzenessen vom Chemie-Riesen“ und wanderten ab zur Pommes-Bude gegenüber.
„Haben wir wirklich etwas bewirkt?“ – diese Frage stellt sich Jürgen Normann, der Gründungs-Bassist. Da könne man geteilter Meinung sein, so seine Antwort, „denn die schlechten Traditionen von damals bestehen zum Teil noch immer. Dass Musikerinnen und Musiker ein Orchester als Brötchengeber sehen und dort den Weg des geringsten Widerstands gehen: Das gibt es nach wie vor. Alles egal, Hauptsache, die Kasse stimmt – in vielen Berufsorchestern kann man diese Haltung finden. Wie eben in anderen Berufen auch.“
Aber wäre das nicht so, hätte sich die JDPh ja selbst erfolgreich überflüssig gemacht. Sie wird eben auch in den nächsten 50 Jahren noch gebraucht, als ein Orchester, das eine Utopie vorlebt, vielstimmiger als einst, als gesellschaftliches Abbild einer heterogenen Zeit.
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Stefan Schickhaus, Musikjournalist